Paris: Das Viertel Marais

Paris: Das Viertel Marais

Tag 2

Das Stadtviertel Marais liegt – vereinfacht gesagt – rechts vom Louvre auf derselben Seite der Seine.

Ein kurzer Überblick zur wechselvollen Geschichte: Ursprünglich war das Gebiet ein Sumpfland (daher der Name „Marais“ = Sumpf). Im Mittelalter siedelten sich religiöse Orden an und trockneten das Land für Klöster und Gärten. Im 17.Jahrhundert wurde das Viertel zum bevorzugten Wohnort des Adels. Viele prachtvolle Stadtpaläste entstanden in dieser Zeit. Als der Adel in andere Viertel zog, wurde das Marais zunehmend ein Viertel des Kleinbürgertums und der Handwerker. Im 19. Jahrhundert entstand hier auch eine große jüdische Gemeinde, besonders rund um die Rue des Rosiers.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Marais stark heruntergekommen. Viele der alten Adelspaläste waren baufällig, das Viertel galt als vernachlässigt und stand teils sogar vor dem Abriss.

1962 initiierte André Malraux, der damalige Kulturminister, ein Gesetz zum Schutz historischer Stadtviertel. Ziel war es, verfallene Altstadtviertel zu erhalten und zu restaurieren, anstatt sie abzureißen und durch moderne Bauten zu ersetzen.

Im Marais wurden dadurch viele Stadtpaläste unter Schutz gestellt und aufwendig renoviert. Historische Fassaden wurden instand gesetzt, Innenhöfe und Dächer restauriert. Einige Gebäude wurden in Museen umgewandelt, zum Beispiel das Musée Carnavalet (zur Geschichte von Paris) oder das Musée Picasso.

Ich habe mich ein bisschen in das Viertel verliebt. Zwischen historischer Bausubstanz und kreativem Zeitgeist entfaltet sich hier ein ganz eigener Pariser Charme. In den verwinkelten Gassen entdeckt man kleine Läden, individuelle Boutiquen, gemütliche Cafés und Restaurants – ideal, um sich einfach treiben zu lassen. Meine Empfehlung: Nehmt euch Zeit für einen langen Spaziergang durch das Viertel.

Ein paar Anregungen dafür:

Während des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung wurde das jüdische Leben in Frankreich brutal unterbrochen: „Rassengesetze“, Razzien und Deportationen. Im Marais wurde am 27. Januar 2005, dem Internationalen Holocaust-Gedenktag und dem 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, das Mémorial de la Shoah eröffnet. Es ist das zentrale Holocaust-Museum und Gedenkzentrum Frankreichs.

Interessant, weil ich das anderswo noch nie gesehen hatte, fand ich die Mur des Justes („Mauer der Gerechten“) vor dem Eingangsbereich des Museums. Auf der Mauer sind die Namen von über 3.300 französischen „Gerechten unter den Völkern“ eingraviert. Dieser Titel wird von Yad Vashem an nichtjüdische Menschen vergeben, die während der Shoah unter Lebensgefahr Jüdinnen und Juden versteckten, unterstützten oder ihnen zur Flucht verhalfen – ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten.

Diese Mauer ist nicht nur ein Denkmal, sondern auch ein Aufruf zur Zivilcourage und Menschlichkeit.

Erinnert wird im Mémorial de la Shoa natürlich auch an die zahlreichen Opfer. Auf der Mur des Noms stehen die Namen von 76.000 aus Frankreich deportierten und ermordeten jüdischen Männer, Frauen und Kinder, alphabetisch nach Deportationsjahr.

Am Beginn der Dauerausstellung wird der Dokumentarfilm „Les Immortels“ („Die Unsterblichen“) gezeigt. Er besteht aus fünf Kurzfilmen, in denen jeweils ein junger Mensch einem Holocaust-Überlebenden begegnet. Die Überlebenden teilen in diesen Gesprächen ihre sehr persönlichen Erfahrungen von antisemitischer Verfolgung und Deportation mit den Jugendlichen, aber auch mit den Zuschauenden.

Eine zentrale Aussage der Filme ist das Versprechen der jungen Menschen: „Je vous promets d’être la mémoire de votre mémoire“ („Ich verspreche Ihnen, das Gedächtnis Ihres Gedächtnisses zu sein“). Daher auch der Filmtitel „Die Unsterblichen“, denn die Opfer sind nicht vergessen, wenn die nächste Generation die Erinnerung an die Shoa wachhält.

Tipp: Gestreamt werden können die fünf Kurzfilme auf demYouTube-Kanal des Mémorial de la Shoah.

In der sehr umfangreichen Dauerausstellung – mit vielen Fotografien, persönlichen Gegenständen, Zeitzeugenberichten und Audio- und Videomaterial – liegt der Schwerpunkt auf den Jahren der deutschen Besetzung.

Die antijüdische Gesetzgebung begann im Oktober 1940 und verschärfte sich nach der größten Razzia von Juden in Paris im Juli 1942. In Frankreich entstanden mehr als 30 Durchgangs- und Konzentrationslager. Insgesamt wurden über 75.000 französische Juden deportiert, die meisten von ihnen mit osteuropäischer Abstammung, und man schätzt, dass nur etwa 1.500 nach dem Krieg zurückkehrten.

Besonders bewegend fand ich das Mémorial des enfants mit rund 3.000 Porträtfotos deportierter jüdischer Kinder.

Nach diesem dunklen Kapitel der Geschichte war es Zeit, mehr vom Viertel Marais zu entdecken.

Mein nächste Ziel war das Village Saint-Paul. Dies ist eine Parzelle aus mehreren Innenhöfen und Passagen, durch die man ganz in Ruhe bummeln kann. Auch wenn man es gar nicht so wahrnimmt, befinden sich dort über 80 Geschäfte, darunter Antiquitätenläden, Galerien, Designerboutiquen und Kunsthandwerksbetriebe .

Zwei der prächtigen Stadtpaläste lagen auch auf meinem Spazierweg.

Auf französisch nennt man sie hôtel particulier. Das hat nichts mit einem Hotel im modernen Sinn zu tun (obwohl das im Französischen auch hôtel heisst), sondern war ein vornehmes, privates Stadthaus für Adelige oder wohlhabende Bürger, meist mit einem Innenhof und Garten, mitten in der Stadt.

Das Hôtel de Sens ist eines der ältesten erhaltenen Stadthäuser. Ursprünglich diente das Gebäude als Residenz der Erzbischöfe von Sens. Während der Französischen Revolution wurde es verstaatlicht, später als Lagerhaus genutzt, und im 19. Jahrhundert drohte der Verfall.

Im späten 19. Jahrhundert wurde es unter Denkmalschutz gestellt und aufwendig restauriert. Seit 1961 beherbergt das Hôtel de Sens die Bibliothèque Forney, eine Fachbibliothek für angewandte Kunst, Mode, Design und Kunsthandwerk.

Mit seinen Türmen und Fenstern wirkte es auf mich eher wie eine Burg und weniger wie ein vornehmes Stadtpalais.

Ganz anders das Hôtel de Sully, das zwischen 1624 und 1630 für den wohlhabenden Finanzbeamten Mesme Gallet errichtet wurde. Gallet entschied sich für eine Fassade aus Naturstein anstelle der damals üblichen Kombination aus Backstein und Stein, um reichhaltige Skulpturen und Dekorationen zu ermöglichen.

Flankiert von zwei Sphingen (das ist die Mehrzahl von Sphinx)…

…kommt man durch den Durchgang in der Mitte des Gebäudes in den gepflegten, ruhigen Garten.

Im rechten Teil des „Hinterhauses“ des Hôtel de Sully ist wieder ein Durchgang, der direkt zum Place des Vosges führt.

Der Place des Vosges ist der älteste städtebaulich geplante Platz von Paris. Er wurde von 1605–1612 unter König Henri IV. errichtet. Henri IV. wollte mit dem Platz einen königlichen, aber auch öffentlichen Raum schaffen.

Der Platz ist streng symmetrisch (140 × 140 m) und vollständig von gleich hohen Gebäuden mit roten Ziegeln, weißen Steinrahmungen und Arkadengängen umgeben.

Die Wohngebäude waren im 17. bis 19. Jahrhundert eine begehrte Adresse für Adelige, Intellektuelle und Künstler. Auch Victor Hugo lebte von 1832 bis 1848 dort. In dem Haus befindet sich heute ein Museum, das „Maison de Victor Hugo“.

In den Arkaden findet man heute Galerien, Cafés und Boutiquen. Und der Platz selbst ist, wie man auf den Fotos sieht, ein beliebter Ort, um sich zu treffen und zu entspannen.

Empfehlen möchte ich euch außerdem noch die Rue des Rosiers mit den umliegenden Gassen.

Seit dem 13. Jahrhundert siedelten sich hier jüdische Gemeinden an. Im 19. Jahrhundert wurde das Viertel zu einem Zentrum jüdischen Lebens in Paris – mit Synagogen, Schulen, koscheren Bäckereien, Buchläden und jüdischen Handwerksbetrieben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg – vor allem ab den 1950er-Jahren – kamen viele jüdische Einwanderer aus Nordafrika (insbesondere aus Marokko, Tunesien und Algerien) nach Frankreich, nachdem die Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangt hatten. Diese Sephardim – kulturell und kulinarisch anders geprägt als die ursprünglichen jüdischen Gemeinden – siedelten sich oft rund um die Rue des Rosiers an. Sie brachten ihre nordafrikanischen Traditionen, Gewürze und Gerichte mit.

In den 1970er- und 1980er-Jahren kamen dann vermehrt libanesische Christen und Muslime nach Frankreich, unter anderem wegen des Bürgerkriegs im Libanon. Einige von ihnen ließen sich ebenfalls im Marais nieder oder eröffneten Restaurants dort.

Heute ist die Gegend rund um die Rue de Rosiers daher eine lebendige Mischung aus jüdischer Geschichte, Einflüssen moderner Migration, Restaurants und Streetfood, aber auch Modeboutiquen, Kunstläden und trendigen Cafés.

Ich habe meinen Beitrag mit einem Ort des Gedenkens an die Shoa beginnen und möchte ihn mit einem solchen auch beenden: dem Jardin Anne Frank.

Anne Frank erwähnt in ihrem berühmten Tagebuch eine Rosskastanie, die sie in ihrem Versteck in Amsterdam durch das Dachfenster sehen konnte. Ein Ableger dieser Amsterdamer Kastanie wurde in den Pariser Garten gepflanzt. Leider habe ich dies erst gelesen, als ich schon wieder Zuhause war. Daher habe ich diesen Baum nicht fotografiert.

Die beiden Skulpturen im Anne-Frank-Garten in Paris stammen vom deutschen Bildhauer Alexander Polzin und tragen den Titel „Hommage à Paul Celan“.

Paul Celan wurde 1920 in Czernowitz (heute Ukraine) geboren. Seine Eltern starben in einem nationalsozialistischen Lager, er selbst überlebte mehrere Arbeitslager. Er schrieb auf Deutsch – der Sprache der Täter – und rang dabei um Ausdrucksmöglichkeiten für das Unsagbare. Sein bekanntestes Gedicht ist die „Todesfuge“, in der er den Holocaust auf beklemmende Weise verarbeitet.

Den größeren Teil des Anne-Frank-Gartens fand ich etwas trist.

Aber der hintere Teil, wo auch ein kleiner Spielplatz ist, ist, zumindest jetzt im Frühling, sehr schön.

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